Der Lixue-Pavillon (立雪亭 lìxuě tíng)  




Die kleine, doch exquisite Halle trug ursprünglich den Namen „Gründerhalle“ (初祖殿 chūzǔ diàn), eine weitere Bezeichnung war „Damo-Pavillon“ (达摩亭 dámó tíng). Ihr Bau wurde nach gregorianischem Kalender 1511,  nach chinesischer Zeitrechnung im 6. Jahr der Zhengde-Ära der Ming-Dynastie (明正德六年)  begonnen und dauerte etwas länger als ein Jahr. In den Dynastien der Ming und Qing wurde sie mehrfach renoviert. Nach der weitgehenden Zerstörung des Klosters im Brand von 1928 war sie eine der wenigen noch vorhandenen Hallen. In ihr hielten die Mönche des Klosters vor der Wiedererbauung der Mahavira-Halle ihre täglichen Zeremonien ab.
Die Halle hat ein Ausmaß von 11,37 Metern Breite, 7,39 Metern Tiefe und 8,89 Metern Höhe. Im Kloster ist sie das einzige Gebäude mit einem einfachem Walmdach. Seine weit auskragenden Traufen, das vielfarbig kolorierte Stützgebälk sowie die grün und gelb glasierten Dachziegeln, Dekorleisten der Dachgrate und Dachreiter verleihen der Halle einen besonderen ästhetischen Reiz. In den geschnitzten Säulen unter den Dachvorsprüngen sind noch einige alte Inschriften vorhanden. 




Im Zentrum der Halle befindet sich ein Altar, auf dem ein hölzerner Schrein errichtet ist. Dieser zur Südseite hin geöffnete Schrein dient der schützenden Aufbewahrung einer in Bronze gegossene Statue des sitzenden Bodhidharma (菩提达摩 pútí dámó, vereinfacht: 达摩  dámó), die ebenfalls in der Zhengde-Ära der Ming-Dynastie angefertigt wurde. Bodhidharma ist entsprechend der in der Zeit der Tang-Dynastie entwickelten Genealogie der Chan-Schule der „Gründerpatriarch“ (初祖 chū zǔ) des chinesischen Chan-Buddhismus. Links und rechts der Statue stehen – zum Teil im Halbdunkel des Schreins kaum zu erkennen - drei in Ton modellierte  Figuren. Dies sind: der zweite Patriarch Huike (二祖慧可 èr zǔ huìkě), der dritte Patriarch Sengcan (三祖僧灿 sān zǔ sēngcàn) und der sechste Patriarch Huineng (六祖慧能 liù zǔ huìnéng).(1)




















Über dem Schrein ist eine Holztafel mit einer Kalligraphie des Kaisers Qianlong der Qing-Dynastie (清乾隆皇帝 qīng qiánlóng huángdì) angebracht. Sie ist eine von fünf Tafeln, die der Kaiser nach seinem Besuch im Shaolin-Tempel am 30. September 1750 mit Inschriften versah und die bis heute im Tempel aufbewahrt werden. Die Tafel im Lixue-Pavillon trägt die  vier chinesischen Schriftzeichen  „雪印心珠“ (xuě yìn xīn zhū): „Im Schnee ein Abdruck der Perle des Herzens“.






Bonbons für Bodhidharma



Im östlichen Teil der Halle ist eine überlebensgroße Statue des Bodhidharma aufgestellt, die über die neben ihr an der Wand angebrachten Spendenbescheinigungen (功德证书 gōngdé zhèngshū) zu wachen scheint.
 





















An der dem Norden zugewandten Rückwand des Holzschreins steht eine vergoldete Statue des Königs Kimnara (紧那罗王 jǐnnàluō wáng), er ist der legendäre Schutzheilige des Shaolin-Tempels. Sein Blick fällt durch das Fenster der rückwärtigen Hallentür, durch das man Touristen beim Erwerb von Büchern, Buddha-Malas etc. beobachten kann. 
Im östlichen Abschnitt der Außenwand der Halle waren ehemals mehrere bedeutende mit Inschriften versehene Steintafeln in das Mauerwerk eingelassen. Sie wurden im Zuge der Reparaturen an der Halle 1983 an verschiedene Orte im Tempel verbracht, unter anderem in den Stelenkorridor der Ciyun-Kapelle.


























"立雪亭“, der Name der Halle heißt wörtlich übersetzt "Pavillion des Stehens im Schnee" und bezieht sich auf eine der bekanntesten Legenden des Shaolin-Tempels. Hier eine Nacherzählung:

In seiner Höhle hinter dem Shaolin-Kloster meditiert Tag für Tag Bodhidharma mit dem Gesicht zur Wand. Immer wieder kommt der Gelehrte Shenguang (神光) zu dem Mönch aus der Fremde, von dem gesagt wird, er sei der Einzige im ganzen Reich,  der den Tod besiegt habe. Shenguang steht vor der Höhle und hofft, dass der Meister sich seiner annimmt, ihm hilft, Erleuchtung zu erlangen. Doch der hatte ihn nur mit den Worten „Wie kannst du mit so wenig Tugenden, solch geringer Weisheit, einem seichten Herzen und einem arroganten Geist  auf wahre Befreiung hoffen?“ abgewiesen. Die Zeit vergeht, Damo sitzt, Shenguang wartet. Es ist Winter, und die Kälte nagt an seinen Knochen, schon lange spürt er es nicht mehr.  Die ganze Nacht verbringt er wartend im kniehohen Schnee,- nichts tut sich. Am frühen Morgen ist er halb erfroren; es fängt wieder an, zu schneien. Noch einmal bittet er Bodhidharma um Unterweisung. Damo blinzelt durch die Schneeflocken, knurrt ihn an: „Erst wenn roter Schnee fällt!“ und wendet sich seiner Wand zu. Shenguang steht da wie festgefroren. Kein vor, kein zurück. Eine Entscheidung, er braucht eine Entscheidung! Er zieht sein Schwert und schlägt sich den linken Arm ab. Das Blut spritzt und der fallende Schnee färbt sich rot. „Hier, Meister!“ Damo dreht sich um …

Liangkai "Shenguang bittet um die Lehre" (2)
Der glückliche Ausgang der Legende: Damo hat schnell reagiert, Shenguang hat überlebt. Damo ist überzeugt von Shenguangs Entschlossenheit, nimmt ihn als ersten Schüler an, gibt ihm den Namen „Huike“ („Weisheit und Fähigkeit“) und verhilft ihm auf seinem Erkenntnisweg zu wesentlichen Durchbrüchen. In der Genealogie des Chan wird Huike als Nachfolger Bodhidharmas und zweiter chinesischer Patriarch der Chan-Schule etabliert.

Die Legende unterlag naturgemäß vielen Variationen, z.B. findet die Handlung in manchen Erzählungen vor der Höhle, in der Bodhidharma meditiert haben soll, statt, in anderen im Shaolin-Tempel; mal ist Damo gütig ablehnend, mal weniger freundlich. Das Werkzeug, mit dem sich Shenguang den Arm abtrennt, variiert zwischen Schwert, Axt, Küchenmesser,  Rasiermesser  … Nun, manche Versionen sollte man sich nicht allzu realistisch vorstellen!

In den „Weiteren Biografien bedeutender Mönche“ (续高僧传 xù gāosēng chuán)  von Daoxuan (道 宣) aus dem Jahr 645 wird erzählt, dass ein Räuber Huike den Arm abhieb. Mit der Zeit setzte sich jedoch die Vorstellung, dass Huike selbst seinen Arm geopfert habe, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, durch, zumal sie sich auch für die Verbreitung der Chan-Schule als sinnvoller erwies. Einige hundert Jahre nach Daoxuan ist in der von Daoyuan (道原) zusammengetragenen  Kompilation „Aufzeichnung der Weitergabe der Leuchte“ (景德传灯录 jǐngdé chuándēnglù) die Legende in ihren wesentlichen Zügen ausgeformt (und eigenartigerweise ist das Geschehen exakt auf den Abend eines 9. Dezember festgelegt).

Bis heute ist die symbolische Kraft dieser Legende ungebrochen. Unabhängig von historischer Nachweisbarkeit und Bedeutung ist sie ein Sinnbild für die Entschlossenheit und Tatkraft eines ernst zu nehmenden Schülers. Auch unter den Kungfu-Schülern ist sie gut bekannt, nicht nur aufgrund der „Ein-Arm-Säbel“ (独臂刀 dúbì dāo) genannten Form des Shaolin-Kungfu, die sich auf sie bezieht.

Einen starken Eindruck hinterließ sie ebenfalls bei Zhao Puchu (趙樸初, 1907 – 2000), dem dritten Präsidenten der Buddhistischen Vereinigung Chinas, der zugleich ein wichtiger Förderer des Shaolin-Tempels war. Während seines zweiten Besuches im April 1992 zeichnete er seine Gedanken über den Shaolin-Tempel auf, er schrieb:

Heute ging ich vor den Lixue-Pavillon und machte ein Gedicht: "Ein großer, mutiger Mensch steht im Schnee und trennt seinen Arm ab, um Seelenfrieden zu erhalten. Auf der ganzen Welt ist die erste Bezeichnung dafür Chan, und nicht Kampfkunst."

(今天我走在立雪亭的前面,就作了一首诗:“大勇立雪人,断臂得心安。天下称第一,是禅不是拳。”)(3)

In seinen Notizen drückte er zudem (mit recht pathetischen Worten) seine Hoffnung darauf aus, dass der Shaolin-Tempel weltweit nicht nur als ein bedeutende Stätte der Kampfkunst angesehen wird, sondern dass die Menschen ihn auch als einen wichtigen Ort des Chan-Buddhismus erkennen. Er wünschte sich, dass in der Zukunft, inspiriert von dem Beispiel Huikes, die Menschen aus aller Welt das Shaolin-Kloster nicht nur zum Erlernen des Kungfu aufsuchen, sondern auch mit dem Ziel, ernsthaft um die Lehre des Chan zu bitten.


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  Die Inhalte dieses Artikels wurden von mir nach  bestem Wissen und Gewissen auf ihren  Wahrheitsgehalt hin geprüft und erstellt. Letztendlich geben sie meine Reflektion der Dinge wieder. Quellenangaben sind auf Anfrage hin erhältlich.

Besonderen Dank an Shi Yongchuan vom Shaolin-Tempel Deutschland für seine  verlässliche,  geduldige Hilfe!

(1) lt. Angaben von Shi Yankai
(2) Bild: Liangkai "Shenguang bittet um die Lehre", Südliche Song, © copyright Shanghai Museum
(3) Zitat: Zhao Puchu, aus: http://fo.ifeng.com/zongshi/200704/0401_20_42520.shtml

Übrige Fotos & Text © copyright  yss

15.05.2012 - yss
Letzte Änderung: 28.05.2012